In meiner Arbeit als Traumatherapeut habe ich viele Geschichten gehört, die mich innehalten lassen. Einige davon sind herzzerreißend, andere öffnen die Augen für die subtilen Mechanismen emotionalen Missbrauchs. Doch ab und zu gibt es auch Geschichten, bei denen man den Kopf schütteln muss – nicht vor Verzweiflung, sondern vor Fassungslosigkeit darüber, wie weit sich manche Menschen von der Realität entfernen können. Eine solche Geschichte möchte ich heute mit euch teilen.
Ein Mann schrieb mir eine lange E-Mail, in der er von seiner Begegnung mit einer Kollegin berichtete. Er schilderte, dass diese Frau ihn mit Lovebombing überschüttet habe – sie habe ihn umgarnt, ihm Aufmerksamkeit geschenkt und ihn in eine Affäre verwickelt. Klingt vertraut, oder? Die manipulativen Taktiken einer Narzisstin – wie so oft. Doch die Geschichte hat eine besondere Wendung: Der Mann war zu diesem Zeitpunkt in einer langjährigen Beziehung. Mit anderen Worten: Er ging fremd und betrog seine langjährige Partnerin.
Und als seine Freundin schließlich hinter die Affäre kam, entschloss er sich, ihr die ganze Geschichte zu beichten. Aber anstatt zu seinen Handlungen zu stehen und die Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen, drehte er die Erzählung geschickt zu seinen Gunsten: Er stellte sich selbst als Opfer der narzisstischen Kollegin dar. Die Affäre? Nicht etwa eine bewusste Entscheidung seinerseits, sondern das Ergebnis der Manipulation durch diese “bösartige” Frau. Er hatte sich so tief in diese Opferrolle eingegraben, dass er selbst daran zu glauben schien.
Nun könnte man meinen, dass dieser Moment der Konfrontation mit seiner Freundin ihn dazu gebracht hätte, über sein eigenes Verhalten nachzudenken. Aber weit gefehlt. Stattdessen setzen sich die beiden jetzt regelmäßig zusammen, um meine Videos auf YouTube zu schauen. Nicht, um gemeinsam den Heilungsprozess zu beginnen, sondern um sich gegenseitig zu bestätigen, wie grausam und manipulierend die Kollegin doch gewesen sei. Sie suchen nach Bestätigung dafür, dass die Affäre nicht sein Fehler war – sondern das Ergebnis einer gezielten narzisstischen Attacke.
Was diese Geschichte so erschreckend macht, ist die völlige Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen. Natürlich, narzisstische Manipulation kann tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben von Betroffenen haben. Aber in diesem Fall wird das Konzept des emotionalen Missbrauchs regelrecht missbraucht, um das eigene Fehlverhalten zu rechtfertigen. Sich als Opfer darzustellen, mag kurzfristig Entlastung bringen – es hilft jedoch nicht, das eigentliche Problem zu erkennen. Denn an einem Punkt müssen wir alle erkennen, dass wir selbst für unsere Entscheidungen verantwortlich sind.
Diese Geschichte verdeutlicht, wie leicht es ist, sich in der Rolle des Opfers zu verlieren, wenn man die schmerzhaften Wahrheiten des eigenen Handelns nicht anerkennen will. Anstatt sich mit der Realität auseinanderzusetzen, versteckt man sich hinter der vermeintlichen Schuld der anderen. Doch ohne diese ehrliche Auseinandersetzung bleibt die Heilung aus. Verantwortung zu übernehmen ist nicht immer bequem, aber es ist der einzige Weg, um wirkliche Veränderung und Wachstum zu erreichen.
Vielleicht wird dieser Mann eines Tages erkennen, dass wahre Heilung nur dann möglich ist, wenn man sich auch den unangenehmen Fragen stellt.
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